Heimatdichter

Die Wiederentdeckung eines Heimatdichters

von Manfred Albrecht

Wer einen Dichter hat, der pflegt und poliert ihn. Dichter, zumal wenn sie berühmt sind, machen auch ihre Geburts- und Heimatorte berühmt. In ihrem Glanz kann man eigene Leistungen in noch schönerem Licht erscheinen lassen. Fontane und Neuruppin, Goethe und Weimar, Strittmatter und Bohsdorf und Schulzenhof, Huchel und Wilhelmshorst – die Reihe ließe sich fortsetzen. Aber wer hat schon mal von Thomas und Fresdorf gehört? Von Fresdorf weiß mancher vielleicht – da gab es im Zusammenhang mit dem Kampf um eine dezentrale und umweltfreundliche Abwasserentsorgung Zeitungsartikel und sogar Fernsehberichte. Aber Thomas? Wer kennt den?
Hermann Thomas war Sohn des Fresdorfer Dorflehrers Carl Thomas  und dessen Frau Luise Auguste Henriette, geborene Richter. Er kam am 20.1.1855 zur Welt wurde wie sein Vater Lehrer, dazu aber noch Schriftsteller. Er hat Tiergeschichten geschrieben, nicht irgendwelche sondern solche, in denen man in das Leben von Dachsen und Bären, von Rehen und Mücken, von Ameisen und Weinbergschnecken regelrecht eintauchen konnte. Thomas schlüpft gewissermaßen in die Haut der Tiere und beschreibt ihren Alltag. Staunend erleben die jungen Störche den ersten Aus-Flug auf eine Wiese: „Zum ersten Mal auf der Wiese! Welch ein Erlebnis für einen Jungstorch! Zwei Augen sind nimmer genug, all die Wunder zu schauen. Und wie anders, wie ganz anders ist hier vieles, was er  vom Neste her schon kennt. Was sich dort kaum rührte, wenn die Eltern es brachten, höchsten mühsam kroch, das hüpft und huscht, flitzt und fliegt hier, dass ihm das Auge nicht nachkommen kann, geschweige denn der Fuß oder der Schnabel. … Nur selten macht der Schnabel hick! hack! Und immer daneben. Mit eigener Jagdbeute sieht es übel aus, und wenn die Eltern nicht wie sonst fütterten, müssten die großen tapsigen Schlingel mit leerem Magen heimkehren.  Aber bald wird es besser. Schon morgen, spätestens übermorgen geben sie acht, wie man es machen muss, wie man den Heuschrecken nachrennt und die Libelle im Fluge erhascht, den Frosch spießt und die Kreuzotter bearbeitet, bis sie nicht mehr beißen kann. Ja, Scharfauge hat bald heraus, dass am Mausloche vergeblich lauert, wer seinen Schatten darauf fallen lässt. Den hat man hübsch hinter sich.“
Genaue Tierbeobachtung vorwiegend einheimischer Arten in der Umgebung seines Heimatortes Fresdorf, ein erstaunliches Wissen über Anatomie und Fortpflanzung der Tiere aber natürlich auch viel Phantasie versetzen uns als Leser in eine andere Welt. So erleben wir, wie es der Marienkäfer anstellt, immer wieder das Heer der Blattläuse in Grenzen zu halten, wie die roten Waldameisen um den Erhalt und die Vergrößerung ihres Volkes kämpfen oder der Braunbär einem Jäger zum Opfer fällt, als der dem Bauern ein Rind gerissen hatte. Der Mensch kommt in den meisten Geschichten nur am Rande vor. Manchmal, wie bei der Geschichte über den Braunbären, dessen Junge gefangen, in einen Zoo gesteckt oder zum Tanzbären gedemütigt wurden, ist Thomas ganz offen Naturschützer. Sonst steht seine liebevolle Schilderung des Lebens und Liebens der Tiere für sich.
Völlig zu Unrecht sind Hermann Thomas und seine Bücher total in Vergessenheit geraten. Seine Wiederentdeckung jetzt hängt zusammen mit der Arbeit an der Ortschronik von Fresdorf. Nach den bisher vorliegenden Recherchen verließ Hermann Thomas Fresdorf bereits als junger Mann, ging nach Berlin und wurde dort schließlich Rektor einer Schule. In Berlin lernte er auch seine spätere Ehefrau Marie Eveline Geißler kennen, die er im Drei- Kaiser-Jahr, am 8.10.1888, heiratete. Die Verbindung blieb jedoch kinderlos.
Hermann Thomas’ Tiergeschichten hat der Verlag Enßlin und Laiblins, Reutlingen zwischen 1910 und 1955 herausgebracht. „Der Tiere Lust und Leid“ oder „Grimbart und seine Freunde“ sind zwei davon. Zahlreiche Geschichten sind in den 20-er Jahren in der Zeitschrift „Die Mark“ erschienen. Dort hat er auch ausführliche Schilderungen märkischen Brauchtums veröffentlicht. Damit ist Hermann Thomas den Heimatschriftstellern der Mark Brandenburg zuzuordnen. In seinen Erzählungen, die seinen wachen Beobachtungssinn offenbaren, greift er immer wieder gern auf Orts- und Landschaftsbeschreibungen seines Heimatortes Fresdorf zurück und bekennt sich so aufrichtig zu seinen ursprünglichen Wurzeln. Auch hier schöpfte er aus dem Wissen um die unmittelbaren dörflichen Traditionen seines Heimatortes, was gerade diese Beschreibungen für das Verständnis von Zeit und Leute im damaligen Fresdorf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so wertvoll macht.
Seine Beschreibung der Hochzeitsbräuche findet Eingang in die Fresdorfer Ortschronik. Ein wohlhabender Bauer will Pauline, die älteste seiner vier Töchter, verheiraten. Um den richtigen Bräutigam zu finden, fahren sie nach Saarmund zum Hochzeitsmarkt und schalten eine Hochzeitsvermittler aus Langerwisch ein. Alles wird gut – Pauline bekommt ihren Wunsch-Mann, der eine gute Partei ist. Sie ist schließlich auch eine. Thomas beschreibt kenntnisreich am Beispiel des Großbauern wie das funktioniert hat mit Hochzeit und Geld auf dem Lande zu jener Zeit: „Dass er Geld wie Heu hat, weiß jeder, aber niemand, wie er es unter seinen Kinder verteilen wird. Er selbst noch nicht. Fest steht nur, dass es nicht gleichmäßig geschehen kann. Das verstieße gegen das Herkommen und die Rechtsanschauungen der Landbevölkerung. Der Löwenanteil kommt dem Hoferben zu, der für das Ansehen der Familie wird einstehen müssen, und die übrigen Kinder  sind abzufinden, je nachdem sie besser oder schlechter untergebracht werden können. Ein Unding wäre es, einer Tochter unter die Arme zu greifen, weil sie nur in kleine Verhältnisse hineinheiraten kann. Wo Geld ist soll es zusammengehalten werden.  Und Tauben fliegen nur zu, wo schon welche sind.“
In zeitgenössischen Berichten und Abhandlungen wird dem Schaffen von Hermann Thomas wiederholt eine große Bedeutung zugemessen. Seine Werke erreichten teilweise Auflagen bis zu 58.000 Exemplaren und wurden noch bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts verlegt.
Auf Bestreben des badischen Unterrichtsministers wurde eine seiner Tiererzählungen schließlich in ein Schulbuch aufgenommen.
Der Verleger der Heimatzeitschrift „Die Mark“, Georg Eugen Kitzler, selbst viel beachteter Autor von Heimatbeschreibungen und heimatbezogenen Forschungsberichten, würdigte das Lebenswerk von Hermann Thomas 1929, zwei Jahre vor seinem Tod folgt:
„So bescheiden und stillsinnend wie die Landschaft unserer Mark Brandenburg sind auch vielfach die märkischen Dichter und Heimat- Schilderer. Die große Welt hat bis vor kurzem unsere märkische Landschaft nicht recht gewürdigt, nur ihre dürftigen, sandigen Stellen in der Kennzeichnung vorangestellt, ohne der Schönheit ihrer Seen, Flüsse und Fließe zu achten, ohne die stille Lieblichkeit des Szeneriewechsels der Landschaft zu empfinden, der Wälder, die oft wie in einem riesigen Park malerisch verstreut liegen.
Und so sind auch unsere Dichter und Schriftsteller meist unbeachtet geblieben. Der Erzähler Fontane stieg erst in den letzten Jahren mehr empor. Andere, kaum genannt, werden schon wieder vergessen. Die Menschen jagen hinter Sensationen her, in der Landschaft sowohl wie in der Literatur. Das Bescheidene, eine sachliche, genauere Beschreibung von Natur, Heimat und Volkstum wird kaum beachtet in dieser Zeit, die mit dem nichtssagenden Schlagwort „Neue Sachlichkeit“ viel Oberflächlichkeit verdeckt.
Auch der Mann, dem diese Zeilen gelten, ist nur ein bescheidener Erzähler und viel zu wenig bekannt geblieben, trotzdem seine schlichten, aber lebensechten Schilderungen märkischen Volkstums ebenso wie seine auf sehr gründlicher Kenntnis des Lebens der Tiere beruhenden Naturbeschreibungen weiteste Beachtung verdienen.“
(„Die Mark“ Heft Nr. 25 Seite 57 von 1929, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam)
Die Zeit selbst mag erklären, warum der berühmte Theodor Fontane heute das Maß aller Dinge darstellt und andere Schriftsteller der Mark Brandenburg, wie auch der Fresdorfer Hermann Thomas, ohne diese Recherchen bis zur völligen substanziellen Unauffindbarkeit verkommen sind. Vielleicht ist die Wiederentdeckung dieses Heimatschriftstellers Anlass, einmal eines seiner Bücher zur Hand zu nehmen und die beeindruckenden Naturbeschreibungen selbst nachzulesen. Gerade einem Fresdorfer wird dabei sicher nicht entgehen, wenn in einigen Erzählungen die heimischen Gefilde, immer mit großer Sorgfalt und Sensibilität beschrieben, die Kulisse für die eigentlichen Handlungen bilden, auch wenn sie einmal nicht namentlich benannt sind.
Sicherlich ist es heute an der Zeit, dass Hermann Thomas zumindest in seinem Geburtsort die Beachtung und Würdigung erfährt, die ihm seine literarischen Zeitgenossen schon vor vielen Jahrzehnten mit fachlichem Respekt angedeihen ließen.